Helmuth Plessner war ein Kind des Kaiserreiches. 1892 als Arztsohn in Wiesbaden geboren, studierte er seit 1911 parallel Zoologie und Philosophie in Heidelberg, Berlin und Göttingen. Er versuchte sich in dem Spagat, tagsüber die ‚Physiologie der Seesterne‘ zu erforschen, nachts mit einer Metaphysik der ‚wissenschaftlichen Idee‘ seinen philosophischen Erstling zu verfassen. Der Philosoph und Biologe Hans Driesch, Neukantianer wie Windelband, Lask und Max Weber sowie der Phänomenologe Edmund Husserl waren persönliche Bezugsfiguren seiner philosophischen Lernprozesse. Revolutionspolitische Erfahrungen im Nachkriegsbayern und die Auseinandersetzung mit der modernen bildenden Kunst (Kandinsky) kamen hinzu. Nach seiner Habilitation 1920 verfolgte er konsequent seine Laufbahn als Privatdozent für Philosophie an der neu gegründeten Kölner Universität. Neben seinen Schriften trat er mit einer aufsehenerregenden Zeitschrift für die ´Zusammenarbeit der Philosophie mit den Einzelwissenschaften´ hervor (‚Philosophischer Anzeiger‘ 1925-1930), über deren Kontakte er in das Epizentrum der damaligen deutschen Philosophie rückte. Im produktiven Polygon zwischen Max Scheler, Nicolai Hartmann, Martin Heidegger und dem Hermeneutiker Georg Misch gelang Plessner der eigene originäre Durchbruch zur philosophischen Anthropologie, der zugleich mit persönlichen Verletzungen und Enttäuschungen verbunden war. Die letzten Jahre der Weimarer Republik sahen Plessner in vielfältigsten Bestrebungen und Kontakten, u.a. zum Bauhaus, zur Wissenssoziologie Karl Mannheims und zur politischen Theorie Carl Schmitts.
Wegen jüdischer Abstammung seines getauften Vaters 1933 aus dem Amt entlassen, fand Plessner nach einem Umweg über die Türkei durch den befreundeten Tierpsychologen F.J.J. Buytendijk in den Niederlanden Asyl. Unter schwierigen Bedingungen lehrte Plessner seit 1936 in Groningen als Soziologe, ab 1940 noch einmal existentiell gefährdet durch die deutsche Besetzung. Durch Vermittlung von niederländischen Freunden und Schülern im Untergrund überlebend, erhielt Plessner 1946 das Ordinariat für Philosophie in Groningen. Eine indirekte Wirkung, vermittelt über Buytendijk, übte Plessners philosophische Anthropologie auf die französische Anthropologie von Maurice Merleau-Ponty aus.
Nach 17 Jahren kehrte der 60-jährige 1951 nach Deutschland zurück, um den neugegründeten Lehrstuhl für Soziologie in Göttingen anzunehmen. Im gleichen Jahr heiratete er seine Frau Monika. Plessner, der ein Stück Weltoffenheit in das noch abgekapselte Deutschland mitbrachte, ließ sich vielfältig einbinden. Er betrieb den institutionellen Aufbau der Soziologie in Göttingen, lehrte gleichzeitig Philosophie, war auf Bitten von Horkheimer und Adorno eine Weile als führender Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung in Frankfurt beteiligt und setzte in Göttingen neben Impulsen zur Sportsoziologie umfangreiche empirische Untersuchungen zur Hochschule, zur Gemeinde- und Bildungssoziologie in Gang. Mit seinen Präsidentschaften in den Gesellschaften für Soziologie und für Philosophie war Plessner gefordert, zwischen rückgekehrten Emigranten und Dagebliebenen sowie zwischen inhaltlichen Lagern Einbindungen und unvermeidliche Abgrenzungen zu leisten.
Als Anreger der modernen Soziologie, mit dem Einbringen der philosophischen Anthropologie im Austausch mit Biologen wie Adolf Portmann und ständiger Reibung mit seinem Antipoden Arnold Gehlen, die dadurch auch für die jüngere Generation wie Jürgen Habermas oder Odo Marquard attraktiv wurde, in den ideenpolitischen Auseinandersetzungen mit der Existenzphilosophie und Kritischen Theorie war Plessner, über seinen Schülerkreis hinaus, eine Figur in der konsolidierenden Öffnung der Republik. Nach seiner Emeritierung bekleidete er in den USA als erster die Theodor-Heuss-Stiftungsprofessur an der New School for Social Research in New York, die für deren Verdienst um die deutschsprachigen Hochschulemigranten eingerichtet worden war. Dadurch ergaben sich fruchtbare Kontakte zur phänomenologischen und interpretativen Soziologie in der Nachfolge von Alfred Schütz (Peter L. Berger, Thomas Luckmann).
Mitte der 60er Jahre erreichte Plessner am Alterssitz in der Schweiz überraschend noch ein Lehrauftrag in Zürich, wo er mit einer die junge Generation erstaunenden Offenheit für Neues und doch in beständiger Kontinuität mit den Gedanken der 20er Jahre noch einmal mehrere Jahre Philosophie lehrte. Bis 1975 publizistisch aktiv, konnten Zeitgenossen Plessners bis ins hohe Alter bewegliche Neugier und seinen persönlichen und noetischen Charme erfahren. Am Ende von langer Krankheit gezeichnet, erlebte er noch die Veröffentlichung seiner Gesammelten Werke, bevor er 1985 in Göttingen starb.