Denken

Die Definition des Lebens als „Grenzleistung“ ist Plessners kategorial glücklicher Griff. In seiner Biophilosophie von 1928 entfaltet er, wie die Zelle durch die Membran zu Lebendigem in einer unbelebten Umwelt wird. Erst die Konzentration des belebten Dinges auf seinen Abschluß, die „Grenze“, öffnet es auf charakteristische Weise zugleich nach innen und außen, läßt je spezifisch Umwelt in ihm erscheinen und es in einer Umwelt erscheinen. Von dieser Philosophie des Organischen ausgehend bestimmt Plessners Grundlegung der philosophischen Anthropologie, über Pflanze und Tier als Stufen des Organischen (1928), den Menschen als das Lebewesen, das eingelassen in die Leibgrenzen und eine entsprechende Umwelt – „positioniert“ – und zugleich außer ihr geraten und weltgeöffnet – „exzentrisch“ – ist, und vom „exzentrischen“ Punkt seiner Position aus „künstlich“ Grenzen ziehen und diese „verkörpern“ muß. Diese These überprüft Plessner an Gesellschaft, Geschichte und Politik, an Sprache, Kunst und Musik, und an der körperlichen Expressivität des Menschen.

Die sozialphilosophische Linie verfolgt, wie die Menschen mit ihrer prekären Grenzlage – aufgebrochen zum eigenen Innen, reziprok den durchdringenden Blicken der anderen preisgegeben – fertig werden, indem sie einander das Recht auf „Masken“ zugestehen und in der so gestifteten öffentlichen Sphäre von Takt und Taktik die Grenzen der Gemeinschaft (1924) markieren. In seiner ´politischen Anthropologie´ (Macht und menschliche Natur [1931]) beschreibt Plessner, wie ganze Menschengruppen als Kulturen dem Prinzip „künstlicher Horizontverengung“ folgen: In der schöpferischen Not der Unbestimmtheitsrelation zu sich selbst, zueinander und zur Welt wagen sie, eine Vertrautheitszone zu setzen und erkennen untereinander die Pflicht des „Politischen“ an, diese Konstruktion als Position gegen Fremdheitszonen durchzuhalten. In der Begegnung mit ihrem eigenen Wandel und anderen Horizontbildungen entgeht den Menschengruppen nicht, daß ihre jeweiligen Kulturen „vermittelt“ das unmittelbare Wesen des Menschen tatsächlich zum „Ausdruck“ bringen, es aber auf Grund der künstlichen Vermitteltheit notwendig zugleich verdecken. Die Einsicht in seine strukturelle Selbstverborgenheit („homo absconditus“) ist eine Einsicht in die Offenheit des Menschen, und damit ein Pfad, auch andere menschenmögliche Horizontbildungen zuzulassen, ohne von der eigenen ablassen zu können.

Plessner verfolgt die Grenzproblematik des Menschen zwischen Konstruktion und Ausdruck nicht nur in der Sozialdimension, sondern auch in der Sachdimension. Seine Ästhesiologie des Geistes (1923) und seine Anthropologie der Sinne (1970) zeigen die Vorleistungen auf, die die Sinne gerade in ihrer Verschiedenheit für die kognitive Weltorientierung eines exzentrisch gestellten Lebewesens erbringen, indem sie es über leibzuständliche Sinne in Selbstkontakt, über den Sehsinn strukturell auf objektive Distanz zum natürlich Gegebenen und über den Hörsinn strukturell auf mitschwingende Resonanz einstellen. Exzentrisch positioniert zwischen Geist und Körper, ist der Mensch zur verstandesmäßigen Abstraktion von der Sinnlichkeit fähig, ohne aus ihr aussteigen zu können. Umgekehrt zwingt er die verschiedenen Sinne zu Mehrleistungen (in mathematisierender Geometrie, bildender Kunst, Musik) und treibt sich damit in die Extreme der Distanz und Resonanz. Wegen dieser Extreme bleibt dem Menschen eine künstliche „Einheit der Sinne“ aufgegeben, wobei die Sprache zwischen distanzierender Darstellung und Ausdruck eine prekäre Mitte bildet.

Schließlich führt die exzentrische Positionalität in die Anthropologie der Subjektdimension. In den rätselhaft sprachlosen Äußerungen berstender Heiterkeit des Lachens oder rüttelnden Weinens identifiziert Plessner (Lachen und Weinen [1941]) Verhaltensweisen, die nur einem Lebenssubjekt eignen, das selbst eine sinnhafte Beherrschung aller möglichen Lebenslagen im fragil bleibenden Selbstverhältnis zu seinem Körper finden muß. In Krisen des Geistes, in sinnhaft unbeantwortbaren „Grenzlagen“, übernimmt der verselbständigte Körper Funktionen der Daseinsbewältigung an Stelle des Geistes. Lachen und Weinen sind mindestens ebenso aufschlußreich für die menschliche Konstitution wie das Sprachvermögen und vielleicht ein stärkerer Einwand gegen den cartesianischen Dualismus als dieses, weil sie den Menschen als eine gebrochene, intermittierende, aber nicht in Körper und Geist zerfallene Einheit ausweisen. So auch beim ´Lächeln´, das auf nicht krisenhafte Weise diesen charakteristischen ´Abstand im Ausdruck zum Ausdruck´ zeigt.

Die anthropologischen, sozialtheoretischen und ästhesiologischen Studien Plessners sind auch Arbeiten am Mythos des „deutschen Geistes“, dem sein Buch Die verspätete Nation (1935/1959) gilt. Kultursoziologisch beschreibt Plessner eine historisch kontingente, aber folgenreiche spezifische Struktur des ´bürgerlichen Geistes´ als ´Weltfrömmigkeit´, deren protestantische Präferenz der ´Innerlichkeit´ gegenüber dem Äußerlichen des Politischen in säkularisierter Form die höchste Erwartung an die Binneninstanz der Philosophie weckt, durch ´Aufhebung´ der Widersprüche im Medium des Geistes dem Besten im Menschen zu genügen. Indem dieser bürgerliche Geist des Idealismus kein rechtes Maß in öffentlichen Angelegenheiten gewinnt, kann er sich im Moment des praktischen Umschlagens dem Druck von vermeintlich endgültigen Lösungen kaum entziehen.

Auch deshalb gilt Plessners philosophische Arbeit seit der ersten Auseinandersetzung mit Kants kritischer Philosophie (Krisis der transzendentalen Wahrheit im Anfang [1918]) einem ´Begriff der Philosophie´, in dem der letzte Vergewisserungspunkt nicht die reine Vernunft gesicherten Wissens, nicht der Primat der Tat, sondern die „philosophische Urteilskraft“ (1920) ist, die als Balanceakt auf der „Grenze“ zwischen Innen und Außen der prekären „menschlichen Würde“ entspricht und als Bildungsinstanz in die verwirklichte Skepsis einübt.

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