Als dritte Preisträgerin wurde 2020 Onora O’Neill gekürt, Philosophin, Großbritannien, Mitglied des House of Lords, geb. August 1941. Aufgrund der Corona-Epidemie konnte die Preisverleihung erst im März 2021 stattfinden.
Onora O’Neill ist eine der großen Gestalten der internationalen Gegenwartsphilosophie. Nach einer Promotion bei John Rawls hat sie sich als Kant-Forscherin einen Namen gemacht. Constructions of Reason von 1989 kann als eines der bedeutendsten Bücher zum Verständnis der praktischen Philosophie der letzten Jahrzehnte gelten. Ziel dieses Buches ist es, den genuin politischen Charakter der praktischen Vernunft zu zeigen und die Bedeutung des öffentlichen Vernunftgebrauchs zu betonen. O’Neill verortet Fragen der Ethik in einem breiteren anthropologischen und politischen Rahmen, etwa in dem sehr einflussreichen Buch Towards Justice and Virtue von 1996, in dem sie sich gegen Verkürzungen der politischen Philosophie ausspricht (implizit auch bei ihrem Lehrer John Rawls). In Autonomy and Trust in Bioethics von 2002 hebt sie die Bedeutung von politischem Vertrauen gegenüber prozeduralistischen Verkürzungen hervor. In den letzten Jahren beschäftigt sie sich wissenschaftlich und politisch besonders mit Gefährdungen der Demokratie in der digitalen Welt.
Diese Betonung des politischen Charakters der Philosophie kennzeichnet nicht nur ihr Wirken als Fachphilosophin, vielmehr ist O’Neill auch eine eminente politische Person als Mitglied des House of Lords und als ehemalige Präsidentin der Britischen Akademie. Sie hat in zahlreichen wichtigen Kommissionen mitgearbeitet und zahlreiche Auszeichnungen erhalten. In den letzten Jahren beschäftigte sie sich besonders mit der Situation der Politik im digitalen Zeitalter, auch in ihrer Funktion als co-Chair der ALLEA Arbeitsgruppe Truth, Trust and Expertise. Es gibt weinig angelsächsische Philosoph*innen von vergleichbarer Statur, die einerseits im internationalen Kontext sehr sichtbar sind, aber zugleich sehr vertraut sind mit der deutschen philosophischen Tradition. Da sie fließend deutsch spricht, war sie auch häufig im deutschen Sprachraum anwesend.
Mit Onora O’Neill wird eine der wichtigsten philosophischen Stimmen der Gegenwart geehrt. Wenngleich O’Neill sich nicht als Plessner-Forscherin einen Namen gemacht hat, bieten sowohl ihre Kant-Forschungen als auch ihre systematischen Arbeiten zahlreiche wichtige Anknüpfungspunkte an das Werk Plessners. O’Neills Blick auf die Ethik ist durch das Bewusstsein für die methodischen Probleme des ethischen Urteilens ausgezeichnet. Wenngleich ethische Überlegungen nie ohne abstrahierende Verallgemeinerung denkbar sind, ist die Situiertheit der Urteilenden von wesentlicher Bedeutung für die Ethik. Die Spannung, die Plessner zwischen Unergründlichkeit einerseits, der Notwendigkeit des Begründens oder des Setzens von Recht andererseits anspricht, spiegelt sich im Werk O’Neills. Hieraus folgt unter anderem die Bedeutung, die O’Neill dem Vertrauen für das menschliche Zusammenleben zuschreibt und das sie gefährdet sieht, wenn man sich der Vorstellung hingibt, Interaktionen könnten allein durch Kodifizierung, Supervision, Qualitätsmanagement usw. abgesichert und perfektioniert werden. Gemeinsames Handeln, so betont sie, ist immer imperfekt, und Aspekte der Unverfügbarkeit sind untrennbar mit menschlichem Handeln verbunden. Für zukünftige Diskussionen um die philosophische Anthropologie in der Tradition Plessners bietet das Werk von Onora O’Neill wichtige Anknüpfungspunkte.
Pressemitteilung der Stadt Wiesbaden vom März 2020
Pressemitteilung der Stadt Wiesbaden vom März 2021
Informationen der Stadt Wiesbaden zum Preis und zur Preisträgerin
Die Feierstunde der Stadt Wiesbaden aus Anlass der Verleihung des Preises hat am 23. März 2021 stattgefunden. Coronabedingt waren Preisträgerin und Laudator zugeschaltet, und die Veranstaltung wurde live in Youtube gestreamt und ist dort abrufbar.
Das Grußwort der Helmuth-Plessner-Gesellschaft finden Sie hier
Die Laudatio von Prof. Dr. Hans-Peter Krüger finden Sie hier